doc hat geschrieben:Die Fragen sind durchaus berechtigt, allerdings sind wir als Optiker auch nur Mittler zwischen Glasindustrie und Kunden und infolge dessen können wir nur mit den Materialien arbeiten die uns zur Verfügung gestellt werden (seitens der Industrie).
Schon klar. Ich erwarte ja auch gar nicht, daß mir jetzt sofort einer das perfekte Brillenglas heranschafft. Sondern nur, daß mir einer erklärt,
warum die Situation so ist, wie sie ist.
Denkbare Erklärungen wären zum Beispiel (einmal wild ins Blaue spekuliert), daß hochbrechende optische Materialien mit ungewöhnlich niedriger oder gar anomaler Dispersion zu weich, zu spröde oder zu hygroskopisch sein könnten, um sich als Brillenglas einsetzen zu lassen. Doch dann würde ich Forschungsanstrengungen erwarten (von seiten der Industrie natürlich, nicht von den Optikern), um diese Nachteile z. B. durch geeignete Beschichtungen oder durch Verkittung zweier Glassorten (eine mit besonderen mechanischen und eine mit besonderen optischen Eigenschaften) in den Griff zu bekommen. In anderen Bereichen der Optik funktioniert so etwas doch auch.
Mir ist selbstverständlich bewußt, daß an Brillengläser andere Anforderungen (optisch wie mechanisch) gestellt werden als etwa an die Linsen in einem Fernglas oder einem Kameraobjektiv, und daß sich deren technische Raffinessen deshalb nicht alle ohne weiteres 1:1 auf Brillengläser übertragen lassen. Doch das ist noch lange kein Grund, überhaupt keine technischen Fortschritte anzustreben ... im Gegenteil!
doc hat geschrieben:Und selbstverständlich will der Optiker dir ein an sich (und in seinen Augen) hochwertigeres Material verkaufen, da er mehr Geld dafür bekommt!
Absolut verständlich und nachvollziehbar. Das macht wohl jeder gute Kaufmann so, der von seiner Arbeit leben will. Umso verblüffender übrigens, daß die bei Fielmann mir unbedingt ein Billigglas andrehen wollten und erst nach mehrfachem Insistieren meinerseits das von mir gewünschte höherwertige Glas (Zeiss Punktal 1,5) bestellt wurde.
Aber egal -- das erklärt nicht, warum "höherwertig" (also
noch höherwertig als Punktal 1,5) immer nur "dünner", "leichter" und "kosmetisch vorteilhafter" bedeutet, aber niemals "höhere Abbildungsleistung" und "geringere Aberrationen".
doc hat geschrieben:Zum Thema Zylinder: Man kann die Wirkung einer falschen Zylinderachse berechnen (2 * zyl * sin alpha), darauf fußt auch die DIN, die davon ausgeht, daß es eine Wahrnehmbarkeitsgrenze gibt.
Na eben! Nach dieser Formel ist doch jene DIN-Norm (die, wenn ich recht verstanden habe, eine Toleranz von ±7° zuläßt), hanebüchener Blödsinn! Denn je höher der Zylinderwert, desto präziser muß der Achswinkel eingehalten werden, damit der resultierende Fehler nach obiger Formel unter der Wahrnehmbarkeitsgrenze bleibt. Sinnvoll wäre also statt eines fixen Pauschalwertes eine Toleranzgrenze, die vom (relativen) Zylinderwert abhängig ist. [EDIT: Ich habe gerade noch einmal zurückgeblättert und sehe gerade, daß die Toleranz von ±7° laut Norm nur für Zylinderwerte bis max. 0,5 dpt gilt ... na dann. Weiß jemand, wie groß sie für Zyl-Werte zwischen 0,5 und 1 dpt ist?]
Tatsache ist jedenfalls, daß meine erste Brille (die teure vom Edeloptiker) einen Fehler von etwa 8° bis 9° aufwies ... also auf jeden Fall weit außerhalb jener Norm und für mich
sehr störend. Trotzdem hieß es, "da muß sich das Auge erst dran gewöhnen". Wenn ich mich erst dran gewöhnen müßte, wie hätte ich dann jenen Zylinderwert und -achse im Refraktionsstuhl als den für mich angenehmsten identifizieren können?
doc hat geschrieben:Liegt der entstehende Wert unter dieser Grenze wird er (in der Regel) nicht als störend oder Sehleistung mindernd wahrgenommen.
Aber was
ich wahrnehme und was nicht, das richtet sich doch nicht nach irgendwelchen Normen!
doc hat geschrieben: Zum Thema achromatische Gläser in der Kameraoptik: Könnte es möglicherweise daran liegen, daß inzwischen (und es ist tatsächlich so!) die ästhetischen Gesichtspunkte bei der Wahl der Brillengläser seitens der Kunden höher bewertet werden als die optischen?!
Natürlich könnte es daran liegen. Ich denke, das ist sogar ganz sicher so! Und genau das stinkt mir! Die Optiker führen sich auf wie Modeberater in einer Brillenboutique, nicht wie Optiktechniker. Andere Kunden mögen das anders sehen ... aber für mich kommt zuerst das Sehen, dann das Aussehen. Ich trage so eine Brille doch nicht aus Jux! Und ich erwarte von einem Optiker, der diesen Berufstitel verdient, daß er mich entsprechend berät und mir nicht etwas Elegantes und Komfortables aufschwatzt, wenn ich in erster Linie an höchster Abbildungsleistung interessiert bin. Nichts gegen Eleganz und Tragekomfort -- aber doch nicht auf Kosten der Sehleistung! Ich weiß schon, die größte Sorge vieler Kunden ist die, wie sie mit der Brille auf der Nase aussehen werden. Meine größte Sorge ist eine andere -- und ich erwarte von einem Optiker so viel Flexibilität und technischen Sachverstand, daß er sich auf die unterschiedlichen Prioritäten seiner Kunden einstellen kann. Leider habe ich bislang noch keinen Optiker getroffen, der diesem Anspruch zu entsprechen in der Lage wäre.
doc hat geschrieben:Nun frage ich dich, wenn 95 % deiner Kunden dünne und leichte Gläser wünschen und damit zurechtkommen, würdest du a) als Optiker prinzipiell davon ausgehen, daß es nicht funktioniert und dementsprechend beraten, und b) als Glashersteller dein Sortiment nach der Mehrheit ausrichten oder (entgegen jeglicher Marktwirtschaft) an den anderen 5 %.
Gegenfrage: Wie viele Prozent aller Autokäufer kaufen einen Rolls-Royce statt eines Golf? Wie viele Prozent aller Kamerakäufer kaufen eine Leica statt einer Canon? Wie viele Prozent aller Fernglaskäufer kaufen ein Glas von Zeiss statt von Bresser?
Natürlich sind 95 % aller Kunden mit Durchschnittsware gut bedient oder sogar mit Billigkram. Nur wenige stellen höhere Ansprüche, und sie müssen dafür auch noch überproportional viel bezahlen. Denn kleine Märkte verursachen über den technischen Aufwand hinaus zusätzliche Kosten, einfach weil sie klein sind. Trotzdem gibt es all die feinen Sachen für die, die hohe Ansprüche stellen und dafür zu zahlen bereit sind. Und die, die sie herstellen und verkaufen, leben in der Regel recht gut davon.
Außer bei Brillen.
-- Olaf