*Verträglichkeit* oder *Ist das Teuerste immer das Beste? (2)*
Diesmal ist ein ganzer Thread zu einer Sternstunde geworden und es ist mir beim besten Willen nicht möglich, das Wichtigste herauszupicken, denn alles zusammen ergibt als Gesamtheit ein wunderber rundes Bild:
Verträglichkeit als Kriterium?
Traumtänzerin hat geschrieben:Ich lese in diesem Forum immer wieder als Argument für High-End-Gleitsichtgläser deren gute Verträglichkeit. Natürlich ist das für den Optiker praktisch, dann ist der Kunde gleich nach der Abgabe der Brille zufrieden und der Optiker hat seine Ruhe.
Meine Frage nun: Bedeutet gute Verträglichkeit auch automatisch die für den Kunden optimale Qualität, was das Sehen angeht? Oder kann vielleicht ein etwas älteres, aber ebenfalls gutes Glasdesign, das aber eben nicht von einem so hohen Prozentsatz der Kunden vertragen wird, für einen Kunden, der es verträgt, vielleicht sogar besser sein als das High-End-Produkt, das fast alle vertragen? Da es ja, wie ich gelesen habe, sehr viele sehr gute Gleitsichtgläser am Markt gibt, wäre diese Variante ja durchaus vorstellbar!
Nicht jeder braucht schließlich die technischen Neuerungen des High-End-Produktes. Wenn ich mir ein Auto kaufe, das, dem Trend der Zeit folgend, von den Dimensionen her so ausgelegt ist, dass auch große Menschen sich darin wohl fühlen, dann profitiere ich nicht davon, wenn ich klein bin (sorry, bessere Autobeispiele fallen mir nicht ein ).
Wenn die verträglicheren Gläser in jedem Fall die besseren sind, dann ist die Sache klar, wer es sich leisten kann und will, bekommt sie, die anderen müssen eben Kompromisse eingehen.
Wenn aber die älteren Glasdesigns oder auch No-Name-Produkte mit einem etwas geringeren Verträglichkeitsprozentsatz im Einzelfall genauso gut sein können, dann gestaltet es sich doch wohl so:
Gerate ich an einen wenig erfahrenen Optiker oder an einen, der sich wenig Gedanken machen will, oder an einen, der sich nicht viel zutraut, dann empfiehlt er mir das Neueste, Verträglichste, denn damit ist er immer auf der sicheren Seite und geht kein Risiko ein.
Gerate ich an einen erfahrenen Optiker, der auch noch Lust hat, sich ein paar Gedanken zu machen, dann überlegt er sich, ob für mich das Teuerste tatsächlich nötig bzw. überhaupt sinnvoll ist und empfiehlt mir eventuell etwas Anderes, für mich Besseres, auch wenn das nicht von so einem hohen Prozentsatz vertragen wird. Er traut sich zu, in etwa einzuschätzen, ob ich damit klar kommen werde und geht eben auch das Restrisiko ein, dass ich eventuell doch nicht klar komme.
Ist es also generell so: Verträglicheres Glas = besseres Glas oder kann das von Fall zu Fall verschieden sein?
Distel hat geschrieben:Grundsätzlich bieten die hochwertigen Produkte breitere Sehzonen, sind also bessere Produkte.
Es kann sein, dass ein einfaches Glas die Anforderungen des Brillenträgers voll erfüllt - nicht besser, aber ausreichend.
Manche Hersteller bieten auch eine Verträglichkeitsgarantie, d.h. gegen Zahlung des Aufpreises kann zum hochwertigen Produkt gewechselt werden. So sind alle auf der sicheren Seite.
Martin Oppenheim hat geschrieben:
Distel hat geschrieben:Grundsätzlich bieten die hochwertigen Produkte breitere Sehzonen, sind also bessere Produkte.
Es kann sein, dass ein einfaches Glas die Anforderungen des Brillenträgers voll erfüllt - nicht besser, aber ausreichend.
Dem muss ich widersprechen! Erst wenn ich alle relevanten Kundendaten sowie seine Sehgewohnheiten und Ansprüche kenne kann ich eine sinnvolle Lösung bieten. Und da ist eben nicht grundsätzlich das individuelle High-End-Premiumgleitsichtglas (das es auch von sog. No-Name-Anbietern gibt und die den Produkten sog. Markenanbietern [die sich ggf. nur Markenanbieter nennen können, weil sie viel Geld ausgegeben haben um beim Endverbraucher bekannt zu werden, was wiederrum vom Endverbraucher mitbezahlt werden muss] absolut gleichwertig abschließen) besser als ein "Mittelklasseglas" - schon gar nicht grundsätzlich. [Anmerkung: ich habe mich bemüht, den letzten Satz so kurz und verständlich wie irgendwie möglich zu formulieren]
Natürlich gibt es genau so Kunden wo man nach Kenntniss aller relevanten Daten und Sehgewohnheiten nicht um ein individuelles Premiumgleitsichtglas herum kommt. Aber das ein solches High-End-Glas für jeden Kunden besser wäre als ein "Mittelklasseglas" ist einfach falsch! Ganz im Gegenteil: Ich hatte auch schon zahlreiche Kunden, die ein "Mittelklasseglas" gegenüber dem High-End-Produkt als angenehmer und subjektiv einfach besser empfunden haben.
Martin Oppenheim hat geschrieben:
Traumtänzerin hat geschrieben: Gerate ich an einen erfahrenen Optiker, der auch noch Lust hat, sich ein paar Gedanken zu machen, dann überlegt er sich, ob für mich das Teuerste tatsächlich nötig bzw. überhaupt sinnvoll ist und empfiehlt mir eventuell etwas Anderes, für mich Besseres, auch wenn das nicht von so einem hohen Prozentsatz vertragen wird. Er traut sich zu, in etwa einzuschätzen, ob ich damit klar kommen werde und geht eben auch das Restrisiko ein, dass ich eventuell doch nicht klar komme.
So sollte es meiner Meinung nach ablaufen. Denn darum gehe ich zu einem Fachmann!
lars56 hat geschrieben:@ Martin Oppenheim: Dem muss ich zustimmen, so sieht die Praxis aus.
OK, ich starte mal den Versuch einer Erklärung, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die Kollegen hier im Forum werden das sicher noch ergänzen können.
Ganz grundsätzlich: Die Optimalvorstellung eines jeden Brillenglases ist: Sehen wie ohne Brille. Also störungsfrei und möglichst uneingeschränkt. Das gelingt selbst bei Verwendung allerbester Brillengläser und Top-Verarbeitung (Refraktion, Anpassung, Sitz) natürlich nicht ganz vollkommen. Ist halt nicht das eigene Auge, sondern das „Hilfsmittel“ Brille und deren Eigenarten.
Schauen wir Menschen in die Nähe, machen die Augen eine Einwärtsbewegung (Konvergenz). Ganz geometrisch betrachtet ergeben sich daraus zwei einfache Ableitungen: Großer Augenabstand = starke Konvergenzbewegung, kleinerer Augenabstand = weniger Konvergenz.
Betrachtet man die Leseentfernung das selbe Spiel: Kurzer Nahabstand = starke Konvergenz und umgekehrt.
Bei der Korrektur mit Brillengläsern kommt nun eine Besonderheit dazu, denn wir ergänzen ja das „System Auge“ um eine zusätzliche Komponente, nämlich das Brillenglas. Und dieses Ding vorm Auge hat allein durch seine optische Wirkung eine Veränderung auch der Konvergenz zur Folge. So muss beispielsweise ein Hyperoper (Weitsichtiger) meist stärker konvergieren als ein Myop (Kurzsichtiger), damit sich die Sehachsen im gewünschten Leseabstand treffen (also den selben Punkt in der Nähe fixieren). Nur weil da ein Brillenglas vorm Auge sitzt!
Richtig bunt wird´s, wenn nun – wie in reichlich 80% aller Verordnungen – auch noch zylindrische Korrekturwerte in die Betrachtung einfließen.
Die Berechnungsgrundlagen einfacher Gleitsichtgläser ziehen oft einen „Durchschnittsmenschen“ heran. Das heißt nichts anderes, dass jeder Brillenträger mit diesen gemittelten Werten klarkommen muss, ganz egal ob weit- oder kurzsichtig, großer oder kleiner Leseabstand usw.
Entspricht jemand diesem Durchschnittsmaß oder kommt ihm in den maßgeblichen Parametern nahe (Augenabstand, Glasstärken, Hornhautscheitelabstand, Vorneigung der Fassung, Körpergröße, Leseentfernung usw.), dann wird ein Einfach-Glas durchaus gut funktionieren können.
Seit einiger Zeit kann man über digitalisierte Herstellungsverfahren allerdings auch die Fehlerzonen der Gläser (seitliche Randbereiche) separat verbessern. Daher wird ein „besseres“ Glas häufig auch in Standardfällen als vom Träger subjektiv als „noch angenehmer“ beurteilt.
Spinnt man den Faden weiter ergibt sich: Je mehr Abweichungen des Brillenträgers vom Standard (und wer ist schon Durchschnitt), desto hochwertiger wird die Abbildungsleistung eines Gleitsichtglases sein können, wenn man die individuellen Parameter bei der Fertigung berücksichtigt. Das schließt den Brillensitz mit ein.
Erfahrene Anpasser berücksichtigen darüber hinaus auch noch Gewohnheiten des Kunden (z.B. welche Korrektur zuvor getragen wurde), das hat M.Oppenheim ja schon beschrieben.
Hoffe, es bringt ein wenig Erleuchtung.
Distel hat geschrieben:
Ich denke, Du hast mich noch nicht verstanden und probiere es mal mit anderen Worten.
Ein Glas mit den modernsten Glastechnik bietet größere Sehbereiche, als ein Glas der früherer Glasgeneration.
Die Fertigungsdaten, die zur Produktion eines High-End-Glas ermittelt und weitergeleitet werden, müssen perfekt
sein - sie verzeihen keinen Fehler.
Unpräzise Angaben rächen sich, da sie zu einer Verschlechterung des Produktes führen.
Je dichter die ermittelten Daten bei den Richtmaßen der "regulären" Pruduktion liegen, um so geringer fällt der
Unterschied zum High-End-Glas aus.
Ein seriöser Augenoptiker erstellt eine Bedarfsanalyse mit dem Kunden.
Menschen, die schon langjährige Brillenträger sind, zeigen eine erhebliche größere Akzeptanz beim Start mit Gleitsichtgläsern, als fast rechtsichtige Alterssichtige.
Die Addition hat einen ganz entscheiden Einfluss, die Arbeitsplatzsituation, die Sehleistung, die Beobachtungsgabe,
nicht zu unterschätzen der Einfluss der Lichtsituation.....letztlich auch die finaziellen Möglichkeiten des Kunden.
Viele Überlegungen fließen in die Glasauswahl mit ein.....
Aus verschiedenen Gründen kann das zweit - oder drittbeste Glas das "richtige Produkt" für den Kunden sein,
obwohl es noch bessere Produkte gibt.
....und wenn der Hersteller auch eine Verträglichkeitsgarantie bietet - sind alle auf der sicheren Seite.
Sollten die Blickfelder als zu klein empfunden werden, kann gegen Zahlung des Aufpreises zu einem hochwertigeren
Produkt gewechselt werden.
Martin Oppenheim hat geschrieben:Ich hatte Dich vorher schon verstanden, bleibe aber bei meiner Meinung.
lars56 hat geschrieben: hat geschrieben:Spinnt man den Faden weiter ergibt sich: Je mehr Abweichungen des Brillenträgers vom Standard (und wer ist schon Durchschnitt), desto hochwertiger wird die Abbildungsleistung eines Gleitsichtglases sein können, wenn man die individuellen Parameter bei der Fertigung berücksichtigt. Das schließt den Brillensitz mit ein.
Die Ausführungen von Lars sind wirklich gut, nur dass ich fest davon überzeugt bin, dass der "Durchschnitt" die große Mehrheit der Brillenträger abdeckt.
wörterseh hat geschrieben: Martin, Du stehst durchaus nicht allein mit Deiner Meinung. Nicht jeder ist mit neuesten Indi Gläsern glücklich. Ich hör schon die Rufe: Aber bei genauester ....
Ich habe schon ein paar unglückliche Inditräger auf ein altes Design umgestellt und ein freudiges Lächeln geerntet! Wohl gemerkt, es lagen bei den Individualgläsern keinerlei Mess- oder Zentrierfehler vor.
Ich denke genauso, daß es ein großer Fehler ist immer nur das neueste Glasdesign als das Beste hinzustellen. Dem ist einfach nicht so. Mancher Optiker merkt ja nicht einmal, das er am Ende seiner Messerei wieder bei den Standardparametern an gekommen ist. Mittlerweile verlassen sich viel zu viele nur noch auf ihre teuren Geräte und merken nicht das sie schleichend ihr Handwerk verlernen. Ihr könnt ja mal bei eurem Schleifer anfragen, wie oft man sich dort über Indibestellungen wundert...
Ich benutze Indi gern wenn es einen Sinn ergibt! Lass es aber genauso gern weg weil gegenüber einem Standard Glas keinen größeren Nutzen bringen würde oder in manchen Fällen sogar die schlechtere Variante wäre.
Ja, die Verträglichkeit ist bei mir oberstes Kriterium in der Beurteilung von Qualität! Und pauschal " das Beste " gibt es einfach nicht.
LG
wörterseh
Distel hat geschrieben:
Lösen wir uns mal von der Optik, dann wird ersichtlich, dass die einzelnen Beträge durchaus Schnittpunkte haben.
In manchen Hotels gibt es auch verschiedene Zimmerkategorien, um die Anforderungen der Gäste zu erfüllen.
Eine mögliche Einteilung wäre:
DZ einfach = Doppelzimmer mit Dusche
DZ de Lux = größeres Doppelzimmer mit Dusche, Badewanne und Balkon
Suite = Wohn- und Schlafbereich, großes Bad mit Dusche, Komfort-Badewanne und Balkon mit schönem Ausblick
Jeder wird da zustimmen müssen, dass die beste Unterkunft in der Suite wäre.
Aber - nicht jeder will und kann dort wohnen.
Die Kunst des Hoteliers ( Verfügbarkeit vorausgesetzt ) besteht darin im Dialog für jeden das angemessene Zimmer
auszuwählen.
Er muss die Ansprüche und den Etat der Gäste berücksichtigen. Nur dann hat er zufriedene Gäste.
wörterseh hat geschrieben:...und es gibt Leute, welche sich in einem kleinen Zimmer einfach wohler fühlen...
Schaut den neuen Papst an, seine Limusine war für ihn beim verlassen des Konklave nicht die erste Wahl, obwohl ja nach gängiger Meinung das bessere Fahrzeug.
"Besser" oder " das Beste" ist einfach nichts greifbares, jeder verseht darunter etwas anderes! Zu viele individuelle Parameter fließen in diese Begriffshülse mit ein.
Distel hat geschrieben:
Eigentlich ganz einfach ......siehe Duden
bes¬te, bes¬ter, bes¬tes
Bedeutung: in höchstem Maße oder Grade gut; so gut wie irgend möglich
...und hier schließt sich wieder der Kreis:
Distel hat geschrieben:Ein seriöser Augenoptiker erstellt eine Bedarfsanalyse mit dem Kunden.
Aus verschiedenen Gründen kann das zweit - oder drittbeste Glas das "richtige Produkt" für den Kunden sein,
obwohl es noch bessere Produkte gibt.
Die Sonne kommt raus.....wünsche ALLEN noch einen schönen Restsonntag.
Für diejenigen, die die Beiträge im Original nachlesen wollen:
viewtopic.php?f=21&t=12086
Ihr habt euch trotz Wochenende (ich hatte eigentlich erst für Montag eure Anworten erwartet) so sehr ins Zeug gelegt, eure Differenzen diskret im internen Bereich bereinigt - ihr alle habt es mir wunderbar erklärt, ganz viele verschiedene Aspekte ins Spiel gebracht, und trotzdem blieb es immer deutlich, dass ihr den Schwerpunkt unterschiedlich setzt.
Ganz herzlichen Dank an Distel, Martin Oppenheim, lars56 und wörterseh! Ich hoffe, ihr hattet trotzdem noch was vom Wochenende!